Wenn die Tage kürzer werden…            

müssen Körper, Geist und Seele sich darauf einstellen können. Mit Jin Shin Jyutsu können wir sie dabei unterstützen.                   

Heute einmal etwas ganz Praktisches für die kommende, wechselhafte Jahreszeit(dafür gibt’s keine Bilder) 😉

Wie in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wird auch im Jin Shin Jyutsu jeder Jahreszeit ein Element zugeordnet. Das Element Luft gehört zum Herbst und entspricht dem Metall der TCM. Seine Wirkung ist das Austrocknen und Zusammenziehen. Das Laub wird trocken, die Früchte schrumpeln zusammen und werden hart. Trockene Schleimhäute erhöhen die Infektanfälligkeit, der Wind greift die den Körper umgebende ätherische Hülle der Lebensenergie (japan.: Ki, chin.: Qi) an und schwächt so die Abwehrkräfte, die kürzer werdenden Tage schlagen zusätzlich aufs Gemüt, welches als Konglomerat von Gedanken und Gefühlen, ebenfalls mit dem Element Luft in Verbindung gebracht wird. Diese synthetische Sicht der Dinge zeigt uns, dass die Vorgänge im menschlichen Körper wie der Psyche nicht losgelöst von den Ereignissen der Natur ringsumher betrachtet werden können.

Die Organfunktionsenergien, die dem Element Luft zugeordnet werden, sind die der Lunge und des Dickdarms. Da der Meridian des letzteren von den Zeigefingern beginnend über den Nacken verläuft, leuchtet es von selbst ein, diese empfindliche Körperpartie, an der sich dicht gedrängt drei Sicherheitsenergieschlösser (SES 4, 12, 11) befinden, zu schützen und mit Tüchern oder Schals warm zu halten, um einem steifen Nacken oder einer Halsentzündung vorzubeugen. Warme Getränke und Lutschpastillen halten außerdem die Schleimhäute feucht. Sollte sich dort doch eine Verspannung einstellen, dann die Hand der gegenüberliegenden Körperseite wie einen Kleiderbügel über die Schulter mit dem Daumen am Hals und den Fingerspitzen auf die schmerzenden Stelle (SES 11) legen, während der Zeigefinger dieser Hand von den Fingern der anderen (gleichseitigen) Hand umschlossen wird und solange halten, bis sich eine spürbare Erleichterung einstellt. Man darf und soll es sich im Sitzen oder Liegen dabei bequem machen und Kissen oder Polster nutzen. Wem dies trotzdem zu anstrengend ist, kann für einen strapazierten Nacken auch einfach die Daumenkuppe auf den Ringfingernagel derselben Hand legen und die restlichen Finger ein wenig strecken, das auf einer oder auf beiden Seiten, wie es gerade angenehm ist. Sollte sich das berüchtigte „erste Kratzen“ im Hals einstellen, hilft ein anderer Griff:  Ist die linke Rachenhälfte gereizt, so hält man zunächst den rechten kleinen Finger mit den Fingern der linken Hand für wenigstens 10 min wie einen Fahrradlenker umschlossen und wechselt dann für ungefähr fünf Minuten auf den Ringfinger daneben. Kratzt es eher rechts, verfährt man entsprechend mit den Fingern der linken Hand. Die Finger müssen wir beim Auflegen oder Umfassen nicht fest drücken, wir sind in gutem Kontakt mit Schlössern oder Fingern und widmen ihnen unsere liebevolle Aufmerksamkeit. Beim Strömen selbst entspannen wir uns, unser Atem wird ruhiger und tiefer, wir lassen die Schultern sinken und ein Lächeln zu, sodass sich ein Wohlgefühl im Körper wie in der Seele ausbreiten kann.

Weitere Auslöser für Infektanfälligkeit sind kalte Füße, wie nicht nur unsere Großmütter es oft angemahnt hatten, sondern wie es auch durch neuere medizinische Studien belegt wird. Wer die Hände und Finger in die Leistenbeugen (SES 15) legt und dort verweilt, öffnet die Meridiane in die Beine und Füße hinein und verbessert dadurch deren Durchblutung, mit dem Ergebnis, dass die Füße warm werden. Dieses persönliche Energiezentrum ist darüber hinaus auch gut für Herz, Kreislauf und Nerven, beschleunigt Heilungsprozesse und hebt außerdem die Laune, was in trüben und nebligen Zeiten ein zusätzlicher Bonus ist. Legen wir außerdem eine Hand über die Schulter der anderen Seite mit den Fingerspitzen in Richtung des Bereichs zwischen Wirbelsäule und Schulterblattspitze (SES 3), während die andere Hand auf derselben Seite in der Leistenbeuge (SES 15) ruht, vermögen wir vorbeugend das Immunsystem anzuregen und manchen Infekt im Anflug abzuwehren. Auch hier empfiehlt es sich, den Griff einmal länger zu halten und die Seiten zu wechseln, dann kann man zwischendrin auch mal kürzere Sequenzen von 5 Minuten einlegen.

Die Lungenfunktionsenergie können wir mit dem sog. „Ankerschritt“ des entsprechenden Stroms unterstützen: Die linke Hand/Finger an den linken Rippenbogen unten (SES 14) und die rechte Hand/Finger an den Bereich direkt unterhalb der Mitte des linken Schlüsselbeins (SES 22), diesen Griff lange (ca. 15 min) halten und bei Gelegenheit auch spiegelverkehrt die rechte Seite strömen.) Dieser Griff unterstützt die Atmung in allen Aspekten und hilft Infekten wie Husten oder Bronchitis vorzubeugen oder abzuwehren, bevor sie überhaupt zum Ausbruch kommen. Zusätzlich kann das regelmäßige Halten des Ringfingers (beide Seiten) die Atmung stärken. (Asthmatiker* können auch mit der linken Hand den linken Rippenbogen (SES 14) halten und mit der rechten Hand/Fingern unter die letzte rechte Rippe nahe der Wirbelsäule (SES 23) gehen und anschließend entsprechend die andere Seite strömen.)

Neben dem Element der Luft, bewegen sich in der Zeit zwischen der Herbst-Tagundnachtgleiche und der Wintersonnenwende durch die alljährliche „Organ-Uhr“ der Monate auch die Blasen-, Nieren- und Zwerchfellfunktionsenergie. Bei ersterer ist es wichtig, auch das Brustbein als ihrem „Geburtsort“ warmzuhalten (auch Sitz der Thymusdrüse als Teil unseres Immunsystems) und wie abermals von den Großmüttern gepredigt, sich (im Freien) nicht auf kalte Flächen zu setzen, um Hämorrhoiden und Blasenentzündungen zu vermeiden. Stattdessen setzen wir uns im Warmen auf einer gut gepolsterten Unterlage mit den Fingern beider Hände an den Sitzbeinhöckern (SES 25), nach persönlicher Vorliebe mit Handrücken oder -fläche nach oben. Schon als Kinder hatten viele von uns sich oft auf die Hände gesetzt, um uns so zu regenerieren und wieder aufnahmefähig zu werden. Das können wir immer noch und unterstützen dabei auch unsere Blasenfunktion, die ja auch für das Ausscheiden von Toxinen und ausgesonderten Erregern zuständig ist. Mit der Blase eng verbunden ist auch die Niere, die wie sie dem Element Wasser zugeordnet, da sie ja den Wasserhaushalt reguliert und das Blut filtert, damit auch für das Immunsystem unerlässlich ist. Wenn uns also etwas „an die Nieren geht“, sollten wir sie mit Kleidung und unseren Händen warmhalten, die wir dazu am Rücken, direkt unter der letzten Rippe neben die Wirbelsäule (SES 23) legen. Wenn wir die Zeigefinger halten unterstützen wir Niere und Blase, damit den gesamten Flüssigkeitshaushalt, der ja das Austrocknen durch das Element Luft ausgleichen muss.

Der Herbst ist eine Zeit des Übergangs aus der prallen Fülle der Erntezeit in die Stille, ja den (vermeintlichen) Stillstand der Kräfte im Winter. Die spürbar kürzer werdenden Tage belasten das Gemüt vieler von uns, auch schwanken die klimatischen Einflüsse zwischen Wärme und Kälte und verlangen gehörige Anpassung von Körper, Geist und Seele. Hier helfen uns die Sicherheitsenergieschlösser unterhalb der Schlüsselbeine (SES 22), die wir gleichseitig oder überkreuz halten können. Egal ob Wetterumschwünge, Strahlung, Elektrosmog oder „schwierige“ Zeitgenossen, die vielleicht aufgrund der Jahreszeit übelgelaunt sind – mit diesem Griff lernen wir „glücklich zu sein, mit dem, was ist“ – und was wir ja doch nicht ändern können… 😉

Fällt es uns schwer loszulassen von den „leuchtenden Tagen“ des Sommers oder sonstigen schönen Erinnerungen, so halten wir hintereinander die Finger vom Daumen bis zum Ringfinger der einen und danach die der anderen Hand. Und sollte uns die zunehmende Dunkelheit des kommenden Winters in Depression und gar Verzweiflung treiben, dann halten wir die Handflächen in Gebetshaltung aneinander oder überkreuz. Der Funke der 6. Tiefe (Zwerchfell- und Nabelfunktionsenergie) wird uns wieder mit unserem Ursprung und unserer eigentlichen Heimat in tiefem Urvertrauen verbinden, dass in der längsten Nacht das Licht der Sonne neu geboren wird.

Suchen Sie sich also eine persönliche Sammlung an passenden Griffen und Sequenzen für die tägliche Anwendung aus, ganz nach den eigenen Bedürfnissen und wenden Sie sie dann auch jeden Tag an, um vorzubeugen oder bis schon aufgetretene Symptome abklingen und verschwinden. Nach einer Woche oder länger können Sie auch wieder Sequenzen austauschen oder durch persönliche Erfahrung als bewährt Erprobtes beibehalten.  

Eine entspannte und ruhige Passage durch eine bewegte Jahreszeit wünscht Ihnen

Ihr Jon Michael Winkler ©2023

*Und auch hier gilt: Alle Tipps und Anregungen immer nur zusätzlich zu allen erforderlichen medizinischen Maßnahmen anwenden! Sie haben nicht die Absicht medizinische Instanzen wie Ärzte oder Heilpraktiker zu ersetzen!

Wie „japanisch“ ist das Jin Shin Jyutsu? – Über viele Facetten einer wiederbelebten Kunst

Wie „japanisch“ es ist? Das hört man doch schon an dem schier unaussprechlichen Namen! Was soll die Frage überhaupt? Und natürlich lernt man aus Büchern und in Kursen, dass diese drei Schriftzeichen am ehesten mit die „Kunst des Schöpfers durch den wissenden und mitfühlenden Menschen“ übersetzt werden können und damit wäre die Frage auch schon beantwortet! Oder?

Ja, das ist schon richtig, aber schaut man noch ein zweites Mal hin, liest man im Textbuch 1 von Mary Burmeister auf Seite 3, dass Jiro Murai das Wort „Shin“ in der Mitte des Namens nicht vom Japanischen, sondern vom chinesischen „Jinshen“ ableitet, darüber hinaus sich auf das hebräische „Shin“ beruft. Dieses ist sowohl eine der 22 Glyphen der hebräischen Schrift als auch ein Wort, das durch seine an einen Zahn erinnernde Gestalt auch „Zahn“ bedeutet, darüber hinaus aber auch die metaphorische Bedeutung vom „Geist Gottes“ oder dem „Lebensatem der Götter“ erhielt, der in der hebräischen Mystik außerdem als Element das Feuer zugeordnet ist. Unwillkürlich und nicht nur weil das Pfingstfest erst ein paar Tage vergangen ist, denke ich bei der Gestalt des Zeichens an die Apostel in Jerusalem, die an diesem Tag den heiligen Geist empfingen, der als lodernde Flamme über ihren Köpfen tanzte… (und fühle mich dabei unwillkürlich an das flammenförmige Scheitelchakra verschiedener Buddhastatuen erinnert…)

Zehn Seiten im selben Buch weiter wird außerdem aus dem Neuen Testament zitiert: „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“(Mt 16,19) Zurückgehend auf Jiro Murai, der ja Teile der damals auf Japanisch nicht zugänglichen Bibel für sich übersetzt hat, wird der Text ganz pragmatisch gedeutet: Die Schlüssel sind die 26 „Sicherheitsenergieschlösser“ selbst und Blockaden derselben oberhalb der Taille werden durch das Öffnen der Schlösser unterhalb der Taille gelöst und umgekehrt. Und bei dieser Aussage, die von Mary Burmeister immer wieder betont wiederholt wurde, fühle ich mich darüber hinaus an das „wie oben, so auch unten“ der smaragdenen Tafel des Urvaters alchemistischer Überlieferungen „Hermes Trismegistos“, den „dreimalgroßen Hermes“ erinnert.

Mary hat die japanischen Begriffe des Jin Shin Jyutsu nicht einfach übersetzt, sondern sie übertragen, sodass ihre Bedeutung auch für einen Menschen der westlichen Hemisphäre fassbar wird, sich dabei mitunter des Kanons christlicher Sinnsprüche bedient. So heißt das zwölfte Sicherheitsenergieschloss (unter anderem) „Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!“ und das dreizehnte „Liebe Deine Feinde!“. Andere Schlösser sind nach hebräischen Glyphen und deren Zuordnungen nach der kabbalistischen Zahlen- und Buchstabenmystik benannt, den „Sphären des Lebensbaums“ und den „32 Wegen der Weisheit“, tragen daher Namen wie: „Weisheit“, „die Tür – Verständnis“, „das Fenster“, „Gleichgewicht“, „Sieg“ u.v.m. Diese Symbolwelt, die ursprünglich aus dem Nahen Osten stammte, hat zusammen mit der christlichen Religion und der Philosophie des alten Griechenlands, die Kultur des Abendlandes über Jahrhunderte als Substrat durchzogen und auch das Unbewusste der Europäer bis in die heutige Zeit geprägt – eine Brücke zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die sich so auch im Jin Shin Jyutsu widerspiegelt, geschlagen.

Schon im ersten Selbsthilfebuch von Mary Burmeister, Grundlage für den entsprechenden Einführungskurs, wird angegeben, dass die zeitlose Harmonisierungskunst des Jin Shin Jyutsu schon vor der Geburt Buddhas, ja sogar vor der Moses existierte – wenn auch ohne diesen Namen. Die Menschen, die das zugehörige Wissen innerhalb der Familie weitergaben, vergaßen es aber im Lauf der Zeit, bis es von den Formen der heute gebräuchlichen Medizin verdrängt worden war. Die Familie von Jiro Murai, eine Ärztefamilie über Generationen, hatte dieses Wissen schon nicht mehr, bis dieser, durch eine lebensbedrohliche, unheilbare Krankheit darauf gestoßen wurde. Durch die Nachahmung von „Mudras“ – Fingerhaltungen an Statuen meditierender Buddhas, wie sie im gesamten asiatischen Raum verbreitet sind – eroberte er sich durch tagelanges Meditieren in der Einsamkeit einer Hütte im Bergwald sein Leben zurück. Er dankte der höheren Macht für die wundersame Rettung und schwor, sein restliches Leben der Erforschung der Ursachen der unverhofften Heilung zu widmen, um den Segen dieses Geschehens allen Menschen weitergeben zu können, was er die restlichen 50 Jahre seines Lebens auch getreulich einhielt.

Auf einer Website, die ich leider nicht wiedergefunden habe, las ich einmal bei einem Vergleich asiatischer Kulturen, insbesondere der indischen, der chinesischen und der japanischen miteinander, dass die beiden ersten stark ihren Traditionen als unbezweifelbarer Autorität verhaftet seien und Inhalte deshalb über lange Zeiträume unverändert überlieferten – letztere aber eher bereit war, selbst lang gehegte Traditionen zu prüfen und in Frage zu stellen. Vielleicht auch ein Grund, weshalb Japan unter den ostasiatischen Ländern schon früh einen Anschluss an Kultur und Zivilisation des Westens fand. Jiro Murai jedenfalls legte die Fundamente für das Jin Shin Jyutsu mittels empirischer Beobachtung seiner selbst und anderer. Immer wieder unterzog er sich rigoroser Fastenkuren oder ernährte sich nur von bestimmten Lebensmitteln, um zu beobachten, wie sein Körper darauf reagierte. Dabei spürte er die verschiedenen Energiestromverläufe auf, die seinen Leib durchzogen und fertigte davon Skizzen an. Erst nach seiner erfolgreichen Behandlung des japanischen Tenno, die ihm freien Zugang zur kaiserlichen Bibliothek verschaffte, konnte er seine Beobachtungen anhand alter Texte überprüfen. Der Bibliothekar besah sich Murais Zeichnungen und erkannte sofort, wonach er suchte und zeigte ihm alte Skripte der chinesischen Medizin mit ihren Darstellungen der sog. „Meridiane“, die weitgehend mit seinen Skizzen übereinstimmten.

Der Quell seiner tiefsten Inspiration aber sollte das „Kojiki“ werden, das „Buch der alten Dinge“ aus dem ersten Viertel des 8. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. In diesem ältesten Zeugnis der japanischen Literatur geht es hauptsächlich um die Entstehung der Welt aus dem Zusammenspiel göttlicher Wirkmächte und die Darstellung des daraus resultierenden Stammbaums der japanischen Kaiserfamilie, die sich ja als Nachfahrin der Sonnengöttin Amaterasu versteht. In diesem Pantheon der verschiedenen Gestalten, Ereignisse und Gottheiten als Allegorien erkannte Jiro Murai den Aufbau der feinstofflichen Matrix, die den stofflichen Leib des Menschen konstituiert und die mit ihm verbundenen Besonderheiten. So identifizierte er die vermählten Geschwistergottheiten Izanagi und Izanami, den linken und den rechten „Betreuerstrom“, die mit der Juwelenlanze (als Hauptzentralstrom) in ihrer Mitte, das Urmeer berührend das Land, sprich die japanischen Inseln zu fester Gestalt gerinnen ließen. Die 26 Götter und die 26 Göttinnen dieser Mythologie setzte er mit den je 26 Sicherheitsenergieschlössern der Körperhälften gleich. Auch durchwanderte er Japan und besuchte verschiedene Heiligtümer und Schreine dort, übertrug so die menschliche Anatomie nach seiner Erkenntnis auf geographische Landschaften und erkannte die gleichen Prinzipien hier wie dort am Wirken, gebrauchen doch auch wir in Anatomie wie in Geographie von dasselbe Wort – „Meridian“.

Diese ganzheitliche Sicht ist in den Kulturen des asiatischen Raums tief verwurzelt und begann dort erst zu verblassen, als der Osten eben begann den westlichen Zivilisationen nachzueifern, während paradoxerweise viele Menschen des Westens, enttäuscht von den vermeintlichen Errungenschaften eines zunehmend technologisch bestimmten Lebensstils eines mechanistischen Weltbilds, ihren Blick auf die integrale Philosophie des Ostens richteten. Schmerzhaft mögen wir auch heute analysieren, was der britische Historiker Joseph Needham in seinem epochalen Werk „Wissenschaft und Gesellschaft in China“ konstatierte: „Wissenschaft muss gemeinsam mit Religion, Philosophie, Geschichte und ästhetischer Erfahrung gelebt werden; für sich allein kann sie großen Schaden anrichten“. Die jüngere Geschichte des Abendlandes hat uns diese Wahrheit in erschreckender Weise gezeigt, dass „wissenschaftliche Neuerungen“ bei gleichzeitigem Verlust ethischer Komponenten zu den Monstern eines Frankensteins führen und in der Vorhölle eines Dr. Mengeles enden.

Mikroskop und Skalpell sind symbolhafte Instrumente für die Analyse als dominanter Methode der „Wissensgewinnung“ – sie haben den Gesichtskreis immer enger werden lassen und das eigentlich „Lebendige“ immer mehr aus dem Auge verloren und es zerstückelt. Der Organismus des Menschen wurde zu einer Maschine degradiert, die Krankheit als bloße materielle „Fehlfunktion“ gedeutet und der Patient als reiner „Fall“ von seiner persönlichen Lebensgeschichte gelöst. Die synthetische Philosophie des „Gelben Kaisers“, des taoistischen Klassikers der traditionellen chinesischen Medizin, dessen Wurzeln der Überlieferung bis in die Mitte des 3. vorchristlichen Jahrtausends zurückreichen, hat dabei höchst zeitgemäße Alternativen bzw. ergänzende Sichtweisen zu bieten. Auch Vertreter einer modernen Medizin beginnen sich für diesen weiteren Blick zu interessieren und ihn ihre eigene Forschung und Praxis zu integrieren. Als Stichworte seien hier nur beispielhaft die Umweltmedizin, die Chronobiologie und die Psychosomatik genannt.

Auch das Jin Shin Jytsu hat in diesen Aspekten sehr viel mit der traditionellen chinesischen Medizin gemeinsam: Die schon erwähnten Meridiane der Organfunktionsenergien, die Lehre der 5 Elemente, der Einfluss äußerer Faktoren des Wetters wie der Jahreszeiten und innerer Faktoren, wie mangelnder Lebenssinn, psychische Traumata und verhärtete emotionale Einstellungen etc. – Doch geht es in vielem eigene Wege. Wer tiefer gräbt, wird weitere Parallelen finden, bei denen die Frage, ob diese aufgrund der sich ins Ganze einfügende Stimmigkeit bewusst integriert wurden oder ob es eben aufgrund unabhängiger Einsichten zu ähnlichen, ja parallelen Erkenntnissen gekommen ist, eine Frage ist, die man vielleicht nicht immer mit Sicherheit beantworten kann. So finden wir im Jin Shin Jytsu Elemente der Heilkunst der alten Griechen und des antiken Mittelmeerraums über das indische Aryuveda hin zu den Kulturen Tibets und den Ureinwohnern des amerikanischen Kontinents. Dabei sind all diese Elemente unter der übergeordneten Klammer der Harmonisierung der Lebensenergie als gemeinsame Schau miteinander vereint.

Und auch wir als Studenten und Praktiker dieser zeitlosen Kunst in der Nachfolge von Jiro Murai und Mary Burmeister sind von den Lehrern der Weltzentrale des JSJ dazu angehalten in unserem eigenen Kulturkreis nach Spuren dieses alten Wissens zu suchen und Verbindungen herzustellen. Unsere Muttersprache z.B. enthält viel altes Volkswissen in Redewendungen, die entsprechende Kenntnisse widerspiegeln. Wird im Jin Shin Jyutsu über die sog. „Einstellung“, also eine verhärtete Emotion, z.B. der Wut gesprochen, wird diese mit den Organfunktionsenergien von Leber und Galle in Verbindung gebracht, die über das Halten des Mittelfingers wieder in Balance gebracht werden kann. Wenn wir verärgert oder zornig sind, reden wir im Deutschen gerne davon, dass uns „eine Laus über die Leber gelaufen ist“ oder uns die „Galle hochkommt“. Dann sind wir „außer uns“ (Seele und Leib also getrennt, wovor das JSJ eindringlich warnt) und zeigen am Ende noch den „Stinkefinger“, den „digitus infamis“, wie der Mittelfinger im Mittelalter auch genannt wurde. In früheren Zeiten zeigte man einem Feind als robuste Abwehrgeste im „heiligen Zorn“ gar sein entblößtes Hinterteil, wo sich an Steißbein und Kreuzbein die sog. „Geburtsorte“ der Gallen- und Leberfunktionsenergie befinden…

Wem das an Bedeutungsebenen aber alles zu viel ist, der sei an dieser Stelle ausdrücklich beruhigt: Haruki Kato, neben Mary Burmeister der andere nachhaltig wirkende Schüler von Jiro Murai, wurde von diesem angehalten eine medizinische Ausbildung abzuschließen, um mit der erworbenen Lizenz eines Akupunkteurs im Japan seiner Zeit auch rechtlich abgesichert praktizieren zu können. Haruki Kato wollte von Anfang an sein Wirken auf seine japanische Heimat begrenzen und musste so das von seinem Lehrer weitergegebene Wissen nicht erst für einen fremden Kulturkreis übersetzen. Er forderte Murai auf, ihm das Wesentliche seiner Erkenntnisse zu vermitteln, welche ja in den gemeinsamen kulturellen Kontext eingebettet waren, welcher mit dem Hinweis einwilligte, dass er nur noch ungefähr zweieinhalb Jahre zu leben habe und dass sie daher sofort mit der Aufzeichnung seines Wissens zu beginnen hätten. Mit seinem Tod zu vorhergesagtem Zeitpunkt war damit auch die japanische Kette der Überlieferung geboren, die von Haruki, der 2014 verstarb, auf seinen Sohn Sadaki überging, der inzwischen auch die Schüler der Mary Burmeister „Schule“ in speziellen Kursen unterrichtet. Diese Linie der Vermittlung von Lehre und Praxis ist also eher „akademisch“ und wird in Japan auch bevorzugt in medizinisch vorgebildeten Kreisen, teilweise auch an Universitäten gelehrt.

Damit schließt sich der Kreis unserer Ausgangsfrage, wie „japanisch“ das Jin Shin Jyutsu also sei. Ja, Jiro Murai, Mary Burmeister und Haruki Kato sind alle japanischer Herkunft und von deren Kultur geprägt, aber speziell die ersteren beiden hatten ihren Blick weit über diese Grenzen hinaus gerichtet und betont, dass diese zeitlose Harmonisierungskunst dem Menschen selbst eingeboren sei und dass er sich nur erinnern müsse, um dieses Wissen wieder hervorzuholen bzw. es sich bewusst zu machen. Unbewusst tun wir es ja längstens: Nach einer Studie der Fakultät für Hirnforschung an der Universität Leipzig berühren sich Menschen (und auch Primaten) bis zu 800 mal am Tag mit den Fingern im Gesicht. Auch wenn die Berührungen nur eineinhalb Sekunden dauern, lassen sich auf der elektrophysiologischen Ebene im Gehirn bedeutsame Niveauänderungen messen. Offensichtlich werden sowohl emotionale Störungen wie kognitive Ablenkungen damit ausgeglichen, Unwohlsein, Angst und Stress dadurch abgebaut. Die Konzentrationsfähigkeit und die Gedächtnisleistung steigen wieder an. Besonders der T-förmige Bereich von Stirn und Nase bis Kinn ist von vielen Nerven und berührungssensitiven Rezeptoren durchzogen und natürlich befinden sich hier viele Meridiane der Organfunktionsenergien, sowie die Sicherheitsenergieschlösser 20 und 21, die viel mit der mentalen Einstellung des Menschen zu tun haben.

Legte also Jesus, der Meisterheiler aus Galiläa, kranken und verzweifelten Menschen seine Hände deshalb am Kopf auf, um durch die Änderung ihrer Gedanken und Sichtweisen letztlich auch eine körperliche Gesundung zu bewirken? Diese Frage will ich hier offen stehen lassen. Für mein eigenes Verständnis muss ich auch gar nicht so tief in Glauben und Geschichte hinabtauchen. Wenn ich sehe, wie eine Mutter ihrem schreienden Baby mit Verdauungsschwierigkeiten die Hände beruhigend auf den Bauch legt und durch ihre Zuwendung und Berührung die Entspannung bei ihm auslöst, die die dortigen Organe ihre Arbeit machen lässt; wenn Marktfrauen nach langem Stehen oder Wanderer nach weiten Touren sich mit ihren Händen oder Fingern in den Beckenkämmen abstützen; Kinder, um wieder munter zu werden ihre Gesichter an den Jochbeinen auf den Handballen abstützen oder sich auf ihre Hände setzen, um sich zu regenerieren und den Kopf frei zu bekommen; wenn Fahrgäste in Bus und Bahn ihre Handaußenknöchel halten, um ihre Nerven zu beruhigen oder die Arme vor dem Körper verschränkt ihre Ellbogenbeuge und den unteren Rippenbogen strömen, sich damit wieder an die universelle Lebensenergie anzudocken, dann weiß ich aus unmittelbarer Anschauung:

Jin Shin Jyutsu IST – schlicht universell – und zutiefst menschlich

Leonardo da Vinci, Die Erschaffung Adams (Detail) – eigene Collage

Jon Michael Winkler © 06.06.2023

BILDNACHWEISE:

Die hebräische Glyphe Shin – eigene Collage

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:El_Greco_006.jpg?uselang=de El Greco (1541 – 1614), die Ausgießung des Heiligen Geistes (um 1600), Museo del Prado, Madrid

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Buddha_sukhothaistylb.jpg Buddha, „Halting the sandalwoodimage“, Wat Benchamabopit, Bangkok, Thailand, 2003, Creative Commons –Fotograf: Heinrich Damm, https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Hdamm

Anonym – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Emerald_tablet2.jpg?uselang=de Smaragdene Tafel des Hermes Trismestigos, gemeinfrei nach „Amphitheatrvm sapientiae aeternae, solivs verae“, 1609, von Heinrich Khunrath (1560-1605).

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tree_of_Life,_Medieval.jpg Mann, der einen Baum mit den zehn Sephiroth hält – Abbildung aus dem Buch Portae Lucis (‚Die Pforten des Lichts‘) (lateinische Übersetzung des Werkes Scha’arej ora von Josef ben Abraham Gikatilla (1248–1305) durch Paul Riccius (Augsburg, 1516))

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Acupuncture_chart_300px.jpg Meridiane, Darstellung aus der Zeit der Ming-Dynastie: Jueyin Herzbeutel – rechte Hand, Chinesische Handschrift 5341, Bibliothèque Nationale, Paris

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kojiki_Shinpukuji.jpg Kojiki, Shinpukuji-Manuskript

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kobayashi_Izanami_and_Izanagi.jpg Kobayashi Eitaku, Izanagi and Izanami, ca. 1885

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Color_post_card._Indian_witch_doctor_(%22shaman%22)_healing_a_sick_woman._-_NARA_-_297728.jpg Color post card. Indian witch doctor („shaman“) healing a sick woman. NARA’s Pacific Alaska Region (Anchorage)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Blue_Beryl-Tree_of_Diagnosis.jpg Der Blaue Beryll, Diagnosetafel der tibetischen Medizin, zw. 1687 and 1703 (Reprint in „The Scientist“ Volume 25; Issue 4; Page 76 Date: 2011-04-01)AuthorDesi Sangye Gyatso

http://www.zeno.org/nid/2000424530X Künstler: Rembrandt Harmensz. van Rijn, Jesus heilt den Aussätzigen, Entstehungsjahr: um 1656 –1660

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Studio_of_Sandro_Botticelli_-_The_Virgin_and_Child,_1480_-_1510,_WA1932.1.jpg?uselang=de Sandro Botticelli (1445 – 1510), Die Jungfrau mit dem Kind

Die Erschaffung Adams von Leonardo da Vinci, Detail – eigene Collage

Universelle Lebensenergie – gibt es die überhaupt?

Diese Blogbeiträge sind der Versuch eines Blickes über den Tellerrand. Und zwar in beide Richtungen – vom Teller weg und zum Teller hin. Denjenigen, die mit Jin Shin Jyutsu bisher nichts zu tun hatten, soll hier eine Brücke gebaut werden, über die sie einen Zugang in die komplexe Philosophie dieser Harmonisierungskunst finden. Meinen Kolleginnen, Kollegen und Fans des Themas möchte ich gerne zu eigenen Exkursen und Einsichten inspirieren.

Hier greife ich dabei einen Artikel auf, den ich vor ungefähr 8 Jahren geschrieben habe, als ich mich der komplementären Energiemedizin erst annäherte und ich die Bezeichnung „HAUPTZENTRALE VERTIKALE UNIVERSELLE HARMONISIERUNGSENERGIE“ noch gar nicht kannte und den ich gerade deswegen hilfreich finde, wenn man sich mit diesem Themengebiet erst einmal vertraut machen möchte:

Die universelle Lebensenergie
Durch die Zeiten hindurch fand sich auf allen Kontinenten die Überlieferung der sogenannten Lebensenergie – eine universelle Energie, die immer und überall vorhanden ist. Eine lebenserhaltende und stärkende Kraft, die für Gesundheit, Vitalität, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude unabdingbar ist und deren Anwesenheit und Wirkung die Unterscheidung von lebenden Wesen und unbelebter Materie überhaupt erst möglich macht. Wir finden sie als „ruach“, den lebensspendenen Odem Gottes im Alten Testament und im Griechenland der Antike als „pneuma“, was zugleich Geist, Hauch und Atem bedeutete. Im hinduistischen Indien gab man ihr den Namen „prana“, die chinesischen Taoisten nannten sie „qi“, die Japaner „ki“. Die Algonquin-Indianer sprachen von „Manitou“, die Yoruba in Westafrika von „ashé“, die Polynesier von Neuseeland bis nach Hawaii von „mana“. Diese Liste an unterschiedlichen Namen ließe sich schier unendlich fortsetzen.

Ki – das japanische Schriftzeichen für Lebensenergie

Aber auch im Europa der Neuzeit sollte die Idee einer universellen Lebensenergie unter verschiedenen Namen wieder auftauchen, dabei mitunter erbitterte, kontroverse Diskussionen auslösen. Paracelsus, der Vater der modernen Medizin im 16. Jahrhundert, nannte die Lebenskraft die göttliche Kraft, welche die Ordnung und Harmonie im Körper und im Geist erhält, soweit nicht falsches Denken und damit einhergehende negative Gefühle den inneren Kraftstrom fehlleiten oder gar blockieren. Der am Bodensee geborene Franz Anton Mesmer, der sich neben anderen Studienfächern den medizinischen Doktorgrad der Hohen Universität Wien erworben und 1775 die Theorie des „animalischen Magnetismus“ veröffentlicht hatte, gründete ein eigenes Hospital, in dem er seine neue Methode sehr erfolgreich zur Anwendung brachte. Die medizinischen Fakultät Wiens und später die von Paris standen seiner Methode allerdings sehr kritisch gegenüber und urteilten sie als Betrug ab. Allein eine preußische Kommission kam 1812, drei Jahre vor seinem Tod, bei der Untersuchung des Magnetismus zu einer positiven Bewertung. Nichtsdestotrotz wurden Mesmers Lehren zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland verbreitet und sollten besonders auf die Psychologie großen Einfluss nehmen, so z.B. auf Theorie und Praxis der Hypnose und der Suggestionstherapie des Émile Coué und auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Sein Begriff der „Libido“, zunächst begrenzt auf das sexuelle Begehren, wurde durch seinen Schüler Carl Gustav Jung später erweitert und so zu einer übergeordneten psychischen Energie, die sich als „Wille zum Dasein“ und „kontinuierlicher Lebenstrieb“ auf Affekt, Liebe, Sexualität, Hunger, aber auch auf Religion und geistige Vorstellungen beziehen kann. In einem seiner Briefe setzt er die Lebensenergie bzw. die Libido sogar mit dem „göttlichen Pneuma“ (vom altgriechischen Wort für Luft und Geist) gleich. Ein weiterer Schüler Freuds, der später einen eigenständigen Weg einschlagen sollte, Wilhelm Reich postulierte nach mikrobiologischen Forschungen die Existenz einer „primordialen Energie“ als Kennzeichen des Lebens, welche er „Orgon“ nannte.

Auch in der Wissenschaftsgeschichte der Biologie und der Medizin des 19. Jahrhunderts sollte die Idee einer universellen Lebensenergie eine bedeutende Rolle spielen. Die sog. „Vitalisten“ widersprachen der Sicht, dass das Leben sich durch physikalische und chemische Prozesse allein erklären ließe und der Mensch nicht mehr als eine „Maschine“ sei, denn betrachtete man eine lebende Zelle im Vergleich mit einer toten, unterschieden sie sich ja nicht in ihrer chemischen Zusammensetzung und die „organischen“, biologischen Substanzen nicht von anorganischen, mineralischen. Was war dann aber der Unterschied zwischen lebender und nichtlebendiger Materie? Es war nach ihrer Sicht eben die Lebenskraft oder „vis vitalis“, die als zusätzliches besonderes Prinzip aller lebender Materie begriffen wurde. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfuhr diese Sicht in Form des „Neovitalismus“ sogar eine regelrechte Renaissance, denn verschiedene Probleme der Entwicklungsbiologie, der Genetik und der Evolution ließen sich anhand des rein mechanistischen Ansatzes immer noch nicht befriedigend erklären. So formulierte der deutsche Naturphilosoph und Zoologe Hans Driesch den auf Aristoteles zurückgehenden Begriff der „Entelechie“ neu, prägte der französische Denker Henri Bergson in seiner Philosophie des Lebendigen den Terminus des „élan vital“, der „Lebensschwungkraft“ und der deutsche Biologe und Naturphilosoph Johannes Reinke postulierte das Vorhandensein von „Systemkräften“, die er „Dominanten“ nannte und für das Kennzeichen des Lebendigen hielt. Selbst die Ärzte der heute älteren Generation hörten in einführenden Vorlesungen noch von der „vis vitalis“, dieser universellen Lebensenergie, die alle lebenden Wesen durchströmt, auch wenn im weiteren Medizinstudium danach nicht mehr darauf eingegangen wurde.

Michelangelo Buonarotti, „Die Erschaffung Adams“, Sixtinische Kapelle, Rom zwischen 1508 und 1512

Der Disput zwischen den Vitalisten und den Materialisten hielt fast bis zum heutigen Tag an. Kein Wunder! Ist doch die Frage, was Leben denn sei, eine der faszinierendsten in Naturwissenschaft wie Philosophie. Die Antworten darauf bestimmen schließlich welche Stellung der Mensch im Reich der Natur einnimmt. Die systemtheoretische Betrachtung überwindet dabei die Einseitigkeit der konträren Sichtweisen und versöhnt sie dadurch: Weder sind wir bloße Maschinen noch von sind wir allein von Geisterhand beflügelte Wesen. Insbesondere auf dem Hintergrund der Erkenntnisse aus Quantenphysik, der Doppelnatur des Existierenden als Welle und Teilchen, als auch den Forschungsergebnissen der relativ jungen Disziplinen wie der Psychoneuroimmunologie und der Epigenetik verdient das Konzept einer universellen Lebensenergie eine Neubetrachtung, zumal sich in der Praxis erstaunliche Wirkungen durch die Anwendung dieser Kraft dokumentieren lassen.

(c) J.M.Winkler 2015

Bildnachweis:

Ki – japanisches Schriftzeichen – eigene Collage

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Friedrich_Anton_Mesmer.jpg 1734 – 1815, Urheber unbekannt

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ETH-BIB-Jung,_Carl_Gustav_(1875-1961)-Portrait-Portr_14163_(cropped).tif Fotograf unbekannt, ca. 1935 (1875 – 1961) ETH-Bibliothek_Portr_14163

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wilhelm_Reich.jpg Foto von Ludwig Gutmann, Wien, vor 1943 (1897 – 1957)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Creaci%C3%B3n_de_Ad%C3%A1m.jpg Michelangelo – Die Erschaffung Adams (zwischen 1508 und 1512)

Was ist Jin Shin Jyutsu? – Grundzüge einer „Physio-Philosophie“

„Durch Jin Shin Jyutsu werden wir uns der Tatsache bewusst, dass wir alles, was wir zu Harmonie und Gleichgewicht in Körper, Geist, Seele, Gefühlen und Verdauung brauchen, innerlich SELBST besitzen.“ (Mary Burmeister)

Wie viele andere traditionelle Philosophien in Asien (wie auch anderer Teile der Welt) geht das Jin Shin Jyutsu davon aus, dass durch den sichtbaren und greifbaren Körper mit seinen anatomischen Gegebenheiten, eine speziellen Energie zirkuliert, die das gesamte Universum und damit auch alle Lebewesen durchströmt. Solange diese „Lebensenergie“ durch bestimmte Bahnen („Meridiane“) in bestimmten Mustern („Strömen“) fließt, ist der Organismus, ja das ganze menschliche Wesen im Gleichgewicht und harmonisch ausgerichtet. Durch äußere wie innere Faktoren kann es aber aus der Balance geraten. Die sog. „Sicherheitsenergieschlösser“ blockieren dann, ähnlich wie Sicherungen in einem Stromnetz, um weitere Schäden durch Überspannung abzuwenden. Dadurch verlässt der Strom der Lebensenergie an dieser Stelle allerdings seinen ursprünglichen Weg und weicht auf andere Bahnen aus, was zu neuen Belastungen und Beschwerden führen kann. Durch das Auflegen der Finger oder Hände auf besagte blockierte Sicherheitsenergieschlösser können sich diese wieder öffnen und der natürliche Fluss der Energien kann sich wieder einstellen.

Die andere wesentliche Komponente in diesem Harmonisierungsprozess ist das bewusste, tiefe Atmen, das durch die bei der Behandlung einsetzende Entspannung auf ganz natürliche Weise ausgelöst wird. Mit der Ausatmung wird alles Verbrauchte und Belastende von Kopf bis Fuß über die Körpervorder-seite abgegeben und durch die Einatmung wird frische, unverbrauchte Lebensenergie in Fülle wieder aufgenommen, von den Fußsohlen die Körperrückseite hinauf bis zum Hinterkopf weitergeleitet. Dieses vertikale Oval um die mittlere Achse des Körpers herum stellt in der asiatischen Heilkunde die zentrale Energieversorgung des menschlichen Wesens dar und wird im Jin Shin Jyutsu die „Hauptzentrale Vertikale Universelle Harmonisierungsenergie“, auch kurz „Hauptzentralstrom“ genannt. Dieser teilt sich nach ein paar Umrundungen der „Mittellinie“ in zwei Ströme auf, die vom Schambein über die Innen- und Vorderseiten der Beine hinab bis zu den großen Zehen verlaufen und über die Fußsohlen wieder über die Rück- und Außenseite des Beines, den unteren und oberen Rücken bis zu den Schädelbasisknochen und schließlich zum Scheitelpunkt des Kopfes aufsteigen. Dort setzen sie ihren Weg fort um erneut ihren Abstieg und weitere Umrundungen zu beginnen, durch die sie jeweils 23 Sicherheitsenergieschlösser pro Körperhälfte erschaffen und erhalten. Diese zwei Ströme, die die linke und rechte Körperhälfte versorgen, werden die „Hauptvertikale Betreuer- Universelle Harmonisierungsenergie“ oder kurz „Betreuerströme“ genannt.

Zur „Dreieinigkeit“ werden die bisher genannten Ströme durch die „Diagonale Vermittler- Universelle Harmonisierungsenergie“ abgerundet. Diese kreuzt den Hauptzentralstrom wie die Betreuerströme in verschlungenen Bahnen, fließt durch die Arme erzeugt und versorgt so die 3 übrigen Sicherheits-tenergieschlösser, verbindet links und rechts, oben und unten, vorne und hinten miteinander, sodass wahre Lebendigkeit entstehen kann. Aus diesen universellen Energien heraus beginnt sich im Anschluss die individualisierte Körperfunktionsenergie herauszubilden, die sich als zwölf Organfunktionsenergien manifestiert. So vollzieht sich, analog zur Entstehung und Entwicklung des Kosmos, der sich aus den hohen, geistigen Schwingungen des leeren Raumes ins Stoffliche niederschlägt, das allmähliche Greifbarwerden der materiellen Gestalt des menschlichen Wesens (und jedes Wirbeltiers) .

Die verschiedenen Grade der Verdichtung werden im der Physio-Philosophie des Jin Shin Jyutsu auch „Tiefen“ genannt. Sie verleihen dem Menschen seinen aus vibrierenden Schichten gewobenen Leib – von der schützenden Außenhaut durch die tiefen Hautschichten, Gefäße, Muskeln und Organe bis hin zu den Knochen als seiner solidesten Materie. Von dort aus beginnt die abgestiegene Energie, die auch als Bewusstsein bezeichnet werden kann, wieder den Aufstieg und die Rückkehr zum Geistigen. Alle geistigen, seelischen und körperlichen Beschwerden können so, in unterschiedlichen Graden, als Stagnation der universellen Lebensenergie begriffen werden, welche durch die Öffnung der blockierten Sicherheitsenergieschlösser wieder ins Lot gebracht werden kann. Die die durch Selbsthilfe oder Behandlung aktivierten Selbstheilungskräfte bringen die Lebensenergie auf der ihr bestimmten Bahn wieder ins Fließen. Die natürliche Ordnung der Schöpfung kann sich wieder herstellen.

Darstellung eines Meridianverlaufs in der chinesischen Medizin

Ähnlich wie in der traditionellen chinesischen Medizin kennt das Jin Shin Jyutsu äußere und innere Ursachen der Disharmonie, die den freien Fluß der Lebensenergie behindern können. Zu den ersteren zählen z.B. das Wetter und klimatische Einflüsse, Unfälle und körperliche Verletzungen oder ein Übermaß an Stress; zu den letzteren z.B. eine fehlende Lebensperspektive, unaufgelöste emotionale Verletzungen, Beziehungsprobleme und negatives Denken, das unablässige Verharren in einer oder mehrerer der sog. fünf „Einstellungen“: Sorge, Angst, Wut, Trauer und Bemühung. Diese Gedanken und Emotionen sind ein ganz natürlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, werden aber problematisch, wenn sie zum „Grundton“ des Charakters werden, der nur noch traurig oder wütend ist. Denn dann schlägt sich diese Haltung mit der Zeit auch körperlich nieder und führt zur Dishamonie in den zugehörigen Organen, die nur durch die Aufgabe besagter Einstellung aufgelöst werden kann. Mary sagte nicht umsonst, dass die Gedanken der wichtigste Faktor im Heilen von Beschwerden seien. Die regelmäßige Anwendung von Jin Shin Jyutsu löst dabei nicht selten Momente spontaner Selbsterkenntnis aus, die so zu unverhofften Selbstheilungsprozessen beitragen können.

Melencolia I von Albrecht Dürer – Die schwarze Galle als Sekret der Milz galt in der Temperamentenlehre der alten
westlichen Medizin als Verursacherin der nach ihr benannten Melancholie. Auch im Jin Shin Jyutsu wird ein Ungleich-
gewicht der Milz- (neben der Magenfunktionsenergie als weiterem Organstrom der sog. „ersten Tiefe“) als Urheberin von Sorgen und Depressionen betrachtet. Interessanterweise befindet sich die linke Hand des Engels nahe seinem lin- ken Jochbein, Sitz des Sicherheitsenergieschlosses 21, das den Namen „Befreiung aus geistiger Gefangenschaft“ trägt und dem Planeten Saturn als Regenten der ersten Tiefe zugeordnet wird. Dieses Schloss, Haltepunkt des „Ankerschritts“ des „Magenstroms“ unterstützt die Verdauung auf körperlicher und geistiger Ebene, hilft so die mit dem Verdauen einher- gehende Lethargie zu überwinden, wieder frisch und aufnahmefähig zu werden. Das belebende Prinzip wird auch durch das magische Quadrat darüber unterstrichen, welches dem Planeten Jupiter zugeordnet wird, der wiederum der Regent der sog. „dritten Tiefe“, des Aktivitätsprinzips (Leber- und Gallenfunktion) ist, die die erste Tiefe harmonisiert. Wie in den Regelkreisen des menschlichen Organismus, zeigt sich in diesem berühmten Stich Dürers der Übergang von der kontem- plativen Weltsicht des Mittelalters zum tätigen Leben der Renaissance, symbolisiert auch durch die Werkzeuge am Boden.

Während ein Patient der westlichen Medizin dem Wortsinn nach ein „passiv Erleidender“ ist, ist der Klient und Praktiker des Jin Shin Jyutsu ein am Heilungsprozess aktiv Teilnehmender, der bei seinen Beschwerden nicht von „Problemen“, sondern von „Projekten“ spricht, an denen er selbst etwas ändern kann. Denn auch das ist ein ganz wesentlicher Grundsatz der Physio-Philosophie, wie er auch in vielen anderen Teilen der Welt formuliert worden ist: „Energie folgt Aufmerksamkeit“ – Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Beschwerden, neigen sie dazu sich zu verstärken. Konzentrieren wir uns aber auf die allem zugrundeliegende Harmonie, wird diese wachsen. Und selbst bei „großen“ medizinischen Etiketten für unsere Beschwerden, also schweren Erkrankungen – gilt was Mary so treffend formulierte: „Im Herzen unseres Seins besteht ein leiser Puls vollkommener Harmonie.“ Er besteht immer und ihm schenken wir unsere ganze Aufmerksamkeit, denn er ist unser eigentliches Sein, nicht die temporäre Klassifikation einer zeitweiligen Disharmonie.

„Alles Erkennen ist nur ein Erinnern!“ sagte Plato Sokrates zitierend, und in der Tat, mag auch Jin Shin Jyutsu nur ein Name sein, seine Weisheit ist uns ein- und angeboren: Dies betonte schon Jiro Murai und wir erkennen es als wahr, sobald wir uns damit beschäftigen. Wir bemerken es an uns selbst, wenn wir plötzlich wahrnehmen, wohin wir unsere Hände spontan gelegt haben oder welchen Finger wir „instinktiv“ halten oder sehen es an anderen, die das Gleiche tun. Doch sobald wir es bewusst tun und unser Atem sich vertiefend darauf einschwingt, bekommt das vorige unbewusste Tun eine neue Qualität und öffnet den Horizont einer neuen Dimension, nämlich der, ganz im Jetzt und Hier als der Mensch anzukommen, als der wir gemeint sind und der wir im tiefsten Grund des Seins auch schon wirklich sind.

10.07.2023 jmw alias strömbear

Bildnachweise:

Schematische Darstellung des Verlaufs des Dreieinigkeitstroms – eigene Collage

https://de.wikipedia.org/wiki/Traditionelle_chinesische_Medizin#/media/Datei:ChineseMedecine.JPG gemeinfrei

Melencolia I von Albrecht Dürer – Biblioteca Digital Hispánica, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7151482

Wandmosaik der Mnemosyne (anonym) – Ophelia2, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16035533

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